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Ich möchte Sie heute zu einem kleinen Experiment einladen:
Schauen Sie sich einfach das nachfolgende Foto an. Schreiben Sie genau auf, was Sie auf diesem Foto sehen.
Konnten Sie all das, was Sie notiert haben, wirklich sehen, also mit Ihren Augen wahrnehmen? Oder haben Sie auch Annahmen getätigt, die Situation so interpretiert, wie sie ‚normalerweise‘ verstanden würde und haben Sie Beobachtungen bewertet, z.B. ob eine Person jung oder alt, etwas sich schnell oder langsam bewegt?
In unserem Alltag geschieht genau das: wir beobachten eine Situation, wir interpretieren sie, indem wir sie mit ähnlichen, uns bekannten Situationen abgleichen, um sie zu verstehen und zu bewerten. Wir tun dies, um blitzschnell zu entscheiden, wie wir darauf am besten reagieren und handeln. Das ist eine wichtige Fähigkeit, wenn etwa Gefahr droht. Wir lernen, diesen Prozess von der Wahrnehmung – also z.B. dem Sehen oder Hören – über die Interpretation und Bewertung in Sekundenbruchteilen zu durchlaufen, so dass wir die einzelnen Elemente gar nicht mehr erkennen.Interessanterweise kann ein und dieselbe Situation in unterschiedlichen Kulturkreisen jedoch ganz unterschiedlich interpretiert und verstanden werden. Das zeigt sich immer dann, wenn Menschen unterschiedlicher kultureller Prägung zusammen kommen, z.B. wenn ein Unternehmen in Deutschland einen ausländischen Experten einstellt. Der neue Mitarbeiter reagiert und handelt ganz automatisch auf Basis seiner im Heimatland erlernten Verhaltensmuster und die Mitarbeiter im deutschen Unternehmen verhalten sich entsprechend ihrer in Deutschland erlernten Muster. Je unterschiedlicher die erlernten Bewertungs- und Verhaltensmuster sind, desto eher entstehen Missverständnisse und Konflikte. Wenn wir diesen Zusammenhang kennen, können wir anders auf ausländische Mitarbeiter zugehen.
Noch einmal zurück zum Foto: Läuft die Person in Ihrem Verständnis weg von etwas oder hin zu etwas? Handelt es sich bei dem Schatten um eine zweite Person? Wenn ja, sind beide Personen gemeinsam unterwegs oder verfolgt eine Person die andere oder bewegt sich vielleicht nur eine der Personen? Was ist hier ‚richtig‘?
Vielleicht erkennen Sie an diesem simplen Beispiel die Komplexität dieses Themas. Um Fehlinterpretationen und vorschnelle Schlussfolgerungen zu vermeiden, kann es hilfreich sein, seine eigene Wahrnehmung zu schärfen und sich zunächst zu fragen: ‚Was nehme ich mit meinen Augen (Ohren) wahr?‘ Über diese objektive Wahrnehmung können Sie dann mit dem ausländischen Mitarbeiter ins Gespräch kommen und herausfinden, wie er die Situation interpretiert. Indem beide Seiten sich über ihre jeweiligen Perspektiven austauschen, erweitern sie ihr interkulturelles Verständnis, können gemeinsame Absprachen für zukünftiges Verhalten treffen und verringern die Wahrscheinlichkeit interkultureller Missverständnisse.
Meine eigene Erfahrung zeigt mir jedoch auch, wie schwierig es ist, mich einzig auf meine Wahrnehmung zu fokussieren ohne direkt Schlüsse zu ziehen. Ich befinde mich hier selbst dauerhaft im Training. Probieren Sie es einfach mal in einer beliebigen Alltags-Situation aus. Und erinnern Sie sich an diese kleine Übung, wenn Sie sich über das Verhalten eines ausländischen Mitarbeiters wundern oder ärgern. Was genau tut er, was sehen Sie?
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